Drei Schüler reichten Wettbewerbsarbeiten ein, drei Mal zweite Preise waren das Ergebnis: Beim 65. Schülerwettbewerb des Landtags von Baden-Württemberg unter dem Motto „Komm heraus, mach mit“ freuten sich Maya Kern, Joa Kindermann und Anni Ring über eine hervorragende Platzierung.
Ihre Wettbewerbsbeiträge entstanden aus Arbeiten, die sie im Rahmen eines Seminarkurses bei Melanie Hölzel angefertigt hatten. Zum Thema Erinnerungskultur beschäftigten sie sich mit sehr unterschiedlichen Facetten.
Anni Ring untersuchte, ob es noch Relikte der Brauchtumspflege und Kultur von Bessarabiendeutschen in der Region gibt. Im 19. Jahrhundert lockte das Zarenreich deutsche Auswanderer nach Bessarabien (heute: Moldawien und südwestliche Ukraine), viele von ihnen aus dem Schwäbischen. Im Zuge der Teilung Polens zwischen der Sowjetunion und dem Dritten Reich sollten sie dann 1940 „heim ins Reich“ und ins besetzte Polen umgesiedelt werden. Anni Rings Vorfahren waren davon auch betroffen. Sie flohen nach Kriegsende nach Westdeutschland und wurden schließlich einem Bauernhof in Gaugshausen bei Ilshofen zugeordnet. Ausgehend von ihrer Familiengeschichte untersuchte die Schülerin z.B. religiöse Bräuche, Volkslieder und kulinarische Vorlieben: „Zusammenfassend kann man sagen, dass viele Bräuche und Traditionen aus dem Schwäbischen erhalten geblieben sind. Durch das andere Klima in der Nähe des Schwarzen Meeres wurden aber auch vor allem in der Küche neue Akzente gesetzt.“ Die gesammelten Überbleibsel bessarabiendeutscher Kultur kann man im Haus der Bessarabiendeutschen in Stuttgart begutachten. Ist 80 Jahre nach der Umsiedelung noch etwas im Alltag übriggeblieben? Anni kommt zu dem Schluss, dass sich die Bessarabiendeutschen assimiliert haben. Am ehesten finde man Spuren in eingelegtem Gemüse und in Rezepten – Kochbücher sind auch die Verkaufsschlager des Vereins der Bessarabiendeutschen, die das Stuttgarter Haus der Bessarabiendeutschen vertreibt.
Einem völlig anderen Thema widmete sich Joa Kindermann. Er interessierte sich für einen Kriminalfall aus dem Dritten Reich. Der Kutscher Bruno Lüdke wurde 1943 für über 50 Morde verurteilt, die er nie begangen hatte – und ist vermutlich 1944 bei Menschenversuchen in Lagerhaft ermordet worden. Joa arbeitete heraus, wie Stereotypen im nationalsozialistischen Weltbild und ein ehrgeiziger Kommissar dazu führten, dass Lüdke zum Massenmörder abgestempelt wurde. Dem wegen Gelegenheitsdiebstählen vorbestraften Kutscher war „angeborener Schwachsinn“ attestiert worden, weshalb man ihn zwangssterilisierte. Als er im Zuge eines Frauenmordes verhört wurde, konnte er den Manipulationstechniken der Polizei intellektuell nichts entgegensetzen. Joa schreibt, dass der Kommissar nun versuchte, „(…) Lüdke weitere Taten bis in die Weimarer Republik zurück nachzuweisen, bei denen er in ganz Deutschland Ähnliches verbrochen haben sollte. Obwohl diese Anschuldigungen allein aufgrund der logistischen Grenzen Brunos unmöglich der Realität entsprechen konnten, gab sich der Kommissar größte Mühe, mithilfe von suggestiv gestellten Fragen und Tatortbegehungen das Gegenteil zu beweisen.“
Der Fall Lüdke wurde 1957 verfilmt. In Nachts, wenn der Teufel kam mimt Mario Adorf den Mörder Bruno Lüdke. Aufgrund aktueller Forschungsergebnisse, die die Unschuld Lüdkes belegen, distanzierte Adorf sich von dem Film. 2020 sagte er, er „möchte mithelfen, dass dieser Mann rehabilitiert wird“. Mit Unterstützung von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier erreichte Adorf, dass zum Gedenken an Lüdke 2021 ein Stolperstein verlegt wurde.
Die Verlegung des Stolpersteins war es auch, die Joa auf das Thema seiner Arbeit brachte. Als Highlight ist sicher die umfangreiche persönliche Antwort Mario Adorfs auf den Fragenkatalog zu werten, den Joa ihm schickte. So beschreibt der Schauspieler seine Reaktion darauf, dass Lüdke kein Mörder war. Dies sei eine „langsame, schmerzliche Entdeckung“ gewesen, die „erst allmählich die Erkenntnis und das Schuldbewusstsein entstehen ließ, die Rolle des Bruno Lüdke ‚falsch‘ gespielt zu haben.“ Damit lässt sich auch erklären, weshalb es zu dieser Stolpersteinverlegung erst nach mehr als sechs Jahrzehnten und nicht deutlich früher nach der Veröffentlichung des Films gekommen ist.
Maya Kerns Arbeit erörtert, inwiefern die KZ-Gedenkstätte Hessental zur Erinnerungskultur der jüngeren Generation beiträgt. Eine Begegnung mit der Auschwitz-Überlebenden Esther Bejerano 2017 hat sie tief geprägt. Die 2021 verstorbene Bejerano hatte es sich zur Aufgabe gemacht, ihre Erinnerungen an die nachfolgenden Generationen weiterzugeben: „Ihr tragt keine Schuld für das was passiert ist, aber ihr macht euch schuldig wenn es euch nicht interessiert.“ Maya trieb die Frage um, wie Erinnern funktioniert, wenn es bald keine Zeitzeugen mehr gibt. Sie findet, dass lokale Gedenkstätten wie in Hessental eine wichtige Funktion übernehmen können, um Vergangenes begreifbar zu machen. Maya wollte herausfinden, welchen Stellenwert die Beschäftigung mit den Verbrechen des Nationalsozialismus für Jugendliche hat, woher ihr Wissen über die damalige Zeit stammt, ob sie schon Gedenkstätten besucht haben und insbesondere, ob sie die KZ-Gedenkstätte Hessental kennen. In ihrer Umfrage, an der überwiegend Gymnasiasten teilgenommen haben, zeigte sich ein überragendes Interesse für die Zeit des Nationalsozialismus und daran, sich insbesondere auch mit den dunklen Kapiteln der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen. Für fast 65% der Schüler machte es einen Unterschied zu wissen, dass die NS-Verbrechen nicht nur in den bekannten großen Konzentrationslagern wie Auschwitz oder Dachau stattgefunden haben, sondern auch direkt vor ihrer Haustür: „Dadurch wird einem bewusst, dass dies in der eigenen unmittelbaren Nähe stattgefunden hat und hier auch wieder stattfinden kann.“ Mayas Fazit? „In unserer heutigen Gesellschaft lassen sich zunehmende Tendenzen, die an die Anfänge und letztendlich auch an die Zeit des Nationalsozialismus erinnern, feststellen. Gedenkstätten sind die Orte, die am meisten dazu beitragen können, sich in die damalige Zeit hineinzudenken, sich kritisch damit auseinanderzusetzen und zur Meinungsbildung auch in Bezug auf den eigenen Umgang mit Minderheiten beitragen können.“
Jochen Schmidt