Das Oberstufentheater des Erasmus-Widmann-Gymnasiums unter der Leitung von Barbara Mühlen bringt den antiken Mythos Pygmalion in einer Adaption von Bernhard Shaw auf die Bühne und begeistert das Publikum.
Nach den Grußworten der Schulleitung öffnet sich der Blick auf die in abgedämpftes Licht gehüllte Bühne. Fünf schwarzgekleidete Männergestalten umtanzen zu zarter Hintergrundmusik fünf weißgewandete Frauen, die auf den Stufen einer weißumhüllten Treppe kauern. Mit jeder tanzenden Bewegung und Berührung des Mannes kommt mehr Leben in die Frauengestalten: Langsam richten sie sich auf, nehmen unter Anleitung graziöse Haltungen ein, bis sie schließlich die Augen öffnen. Mit der Rezitation der lateinischen Anfangsverse des römischen Dichters Ovid wird der Bezug zum antiken Mythos auch sprachlich hergestellt. Aus Enttäuschung über das weibliche Geschlecht schafft sich der Bildhauer Pygmalion eine Frauenstatue ganz nach seinen künstlerischen Vorstellungen und verliebt sich unsterblich in das Artefakt. Mithilfe der Liebesgöttin Venus wird die Statue zum Leben erweckt. Der Zuschauer erlebt also im Proömium den antiken Künstler in seinem Atelier oder einem Tempel bei der Arbeit. Das Bühnenbild trifft die antike Atmosphäre sehr schön. Das Motiv mit Musik und Tanz durchzieht das gesamte Stück. Zu jedem Aktbeginn erscheinen im Hintergrund zur gleichen Anfangsmusik Pygmalion und sein Kunstwerk (Leonie Luckner und Maren Klenk) – ähnlich dem Chor des griechischen Dramas – und geben zwar stumm, aber nicht weniger ausdrucksstark Hinweise auf das Bühnengeschehen.
Doch anders als in der antiken Vorlage, werfen hier die zu Leben erwachten Frauen die ihnen in die Hand gelegten Blumen voller Verachtung auf die Bühne. Das ist Ausdruck der Emanzipation, des Widerstandes der „Erschaffenen“ gegen den Schöpfer. Die antike Denkweise wird durchbrochen, der Perspektivwechsel der Moderne vorbereitet.
Mit einem zentral platzierten grünen Sofa und ein paar Requisiten verwandelt sich die Bühne in das London der 1920er Jahre. Hier trifft der Phonetik-Professor Henry Higgins (Paul Bernhard) eher zufällig auf den ihm bis dahin nur durch seine wissenschaftlichen Studien bekannten Oberst Pickering (Fiona Reti), Fachmann für indische Dialekte. Die beiden Sprachwissenschaftler werden an einem regnerischen Abend Zeuge einer kleinen Gesellschaft, die auf ein Taxi wartet. Anhand der unterschiedlichen Dialekte kann Higgins die Herkunft der einzelnen Personen bestimmen, sein besonderes Augenmerk richtet sich allerdings auf das Blumenmädchen Eliza Doolittle (Leonie Luckner) wegen ihres katastrophalen Dialektes. Vollmundig tönt er, dieses Mädchen durch seine Spracherziehung innerhalb von sechs oder gar drei Monaten zu einer Lady im Stande einer Herzogin zu machen. Am nächsten Morgen kommt es zum Pakt: Wenn Higgins Eliza in die obere Gesellschaft erfolgreich einführen kann, übernimmt Oberst Pickering die Kosten für die Stunden und Ausstattung des Mädchens. Und das Mädchen? Unter wüsten Beschimpfungen und cholerischen Anfällen ihres künftigen Lehrers wird sie klein gehalten, ihre Bedürfnisse überhaupt nicht wahrgenommen. Dem wackeren Einschreiten der emsigen Haushälterin Mrs. Pearce (Lara Neben) ist es zu verdanken, dass Eliza keinen körperlichen Schaden nimmt, stattdessen gebadet und in neue Kleider gehüllt wird. Die äußere Metamorphose Elizas vollzieht sich auf der Bühne durch die zweite Schauspielerin, Oktavia Palen, fortan in feiner Robe in der Rolle der sich zusehends emanzipierenden Eliza. Sie wird in die feine Gesellschaft eingeführt. Das Treffen bei Mrs. Higgins (Seraphine Wehse), der distinguierten, auf Etikette und Benehmen besonderen Wert legenden Dame, wird allerdings zum Fiasko. In Anwesenheit von Mrs. Eynsford-Hill (Maren Klenk), ihrer aufmüpfigen und renitenten Tochter Clara (Emma Simon) und des etwas dümmlichen Sohnes Freddy (Nicholas Kral) sowie aller anderen bereits bekannten Akteure gerät Eliza trotz vorheriger Absprache unverfänglicher Themen außer Kontrolle und verfällt in alte Muster. Ein gnadenloses Debakel für den Sprach- und Lehrmeister Higgins! Seine Mutter hingegen nimmt Eliza ebenso vehement in Schutz wie sie ihren Sohn in die Schranken weist: Seine fehlende Empathie und Wertschätzung für Eliza lassen sie ausbrechen, ein derartiges Experiment am Menschen ohne Menschlichkeit ist zum Scheitern verurteilt. Die Entfernung vom antiken Mythos wird hier sehr deutlich: In erster Linie geht es um die Gefühle der „erschaffenen“ Frau, ihrer Ziele und Träume. Die feministisch-gesellschaftskritische Perspektive bleibt auch bis zum Ende des Stückes: Es gibt kein Happy End, wie im bekannten Hollywood-Musical My fair Lady: Nachdem Eliza einen Opernbesuch und Dinner in feiner Gesellschaft anstandslos gemeistert, Higgins also seine Wette gewonnen hat, emanzipiert sich Eliza vollends von „ihrem Schöpfer“ und wirft ihm die geforderten Pantoffeln buchstäblich an den Kopf und geht. So steht der sprachgewaltige Phonetik-Professor mit offenem Mund und stumm da, wenn der Vorhang fällt.
Barbara Mühlen ist es gelungen, jede Rolle des Stückes überzeugend zu besetzen, jeden Charakter treffend herauszuarbeiten. In einem ausgewogenen Ensemble seien jedoch drei Akteure besonders hervorgehoben: Fiona Reti spielte den stets korrekten, immer höflich und respektvollen Gentleman Oberst Pickering ebenso überzeugend wie Paul Bernhard dessen charakterliche Folie als wütenden Choleriker ohne Benimm und Respekt – als Bühnenpremiere eine Meisterleistung. Und schließlich der zum Moralprediger geadelte Alfred Doolittle, Elizas Vater, gespielt von Lukas Steigenwald. Seine zwei Auftritte waren geprägt von trockenem Humor und Sprachwitz, vorgetragen mit sonorer Theaterstimme.
Die Mühe der Proben trotz der Abiturprüfungen hat sich gelohnt, der verdiente Beifall des Publikums war sehr lang.
Klaus Hirschmann